[Di. 08.12./19:30Uhr] Lesung mit Odile Kennel und Lea Schneider


In der Lesung entsteht aus beiden Essays ein Geflecht, welches Fäden verbindet, die zusammen gedacht werden können und sollen.
Lea Schneider und Odile Kennel haben sich bereits beim Schreiben und im Lektorat ihrer Essays ausgetauscht. So überschneiden diese sich nicht nur thematisch – sie sind auch verwandt. In ihrer Verflechtung werden überraschende Nachbarschaften geschlossen.

Lea Schneider lebt nach längeren Aufenthalten in China und Taiwan als Autorin, Übersetzerin und Kritikerin in Berlin. Ihre literarische Arbeit bewegt sich zwischen Lyrik, Essay und Übersetzung, aber am liebsten vermischt sie alle drei Formen zu etwas Neuem. Für ihre Gedichte und Übersetzungen von chinesischer Gegenwartslyrik wurde sie u.a. mit dem Poetry East West Translation Award, dem Dresdner Lyrikpreis und dem Kunstpreis Berlin ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihr im Verlagshaus Berlin: „made in china“ (2020) und „Scham“ (2021).

Odile Kennel lebt als Lyrikerin und als Übersetzerin vorwiegend zeitgenössischer Lyrik aus dem Französischen, Portugiesischen, Spanischen, Englischen in Berlin. Sie schreibt auf Deutsch und Französisch und lädt gerne weitere Sprachen in ihre Texte ein. In ihrem Essai Lust (2021) und ihrem Gedichtband Hors Texte (2019) lotet sie den Raum zwischen Text und Sex aus und lässt Sprachen einander hinterhersteigen. Ihr erster Gedichtband oder wie heißt diese interplanetare Luft erschien 2013 bei dtv, ebenso wie zwei Romane, Was Ida sagt (2011) und Mit Blick auf See (2017). Für letzteren war sie für den Alfred-Döblin-Preis nominiert. 2022 erhielt sie den Paul-Scheerbart-Preis für ihre Lyrikübersetzungen. Lust war 2023 auf der Shortlist für den Preis der Bücherfrauen.


Lust

von Odile Kennel

Gedichte können LUST entfachen und auffächern, können Objekt der Begierde und Subjekt des Begehrens sein. Gedichte werfen uns anzügliche Zeilen zu und fragen nach Anstößigem, nach der Spalte zwischen Text und Sex, nach dem Körper. Sie sind selbst Körper. Der sich reibt, der einverleibt, es mit der Sprache treibt, und mit sich selbst. Braucht LUST im Gedicht ein Du? Ist Du Ich? Ich Du? Wer begehrt wen? Und wie? Hat Lust ein Geschlecht? Fragen, denen Odile Kennel sich in ihrem Essay spielerisch nähert, dabei Sprachen, das Sprechen und das Schreiben auf ihre Körperlichkeit hin erkundet und Universen auf kleinstem Raum nach ihrem Lusthorizont abtastet. Denn LUST ist nicht sagbar und doch Antrieb fürs Sprechen, fürs Schreiben, fürs sich Verlieren im Text, der Annäherung ist, Ansprache, Asymptote, die nie anlangt oder als Tangente beim Anfassen landet. In ihrer Auseinandersetzung mit LUST lässt Odile Kennel Label an der lustvollen Komplexität des Gegenstands abprallen: LUST ist nie nur Eines, ist immer dazwischen – zwischen den Körpern, den Zeilen, den Sprachen. Die sich einander klangvoll begehren und hinterhersteigen. Die Laute klauben, kalauern, am Rand des Erlaubten kauern. Laut ist leise, Laut ist laut, geht unter die Haut, und wenn die Zunge Sprache ist, eröffnet die Mehrsprachigkeit eine Polyphonie erotischer Möglichkeiten. Odile Kennels Essay ist eine Landkarte der LUST, eine Topographie kultureller Konturen. Ein Essay für den Lustgewinnn im Leben, für ein lustvolles Widerstreben, für unbedingte Lust am Lesen.


Scham

von Lea Schneider

„Scham ist der große Stillmacher“, schreibt Lea Schneider, und arbeitet in ihrem Essay gegen die SCHAM, mit der SCHAM, trotz der SCHAM an Sprech- und Sprachfähigkeiten im Gedicht. „Scham ist ansteckend“, schreibt Lea Schneider, und nähert sich ihr an. Der SCHAM und der Ansteckung. „Scham ist ein Wissen, das dem Körper gehört“, schreibt Lea Schneider, und sie macht den Körper verhandelbar. Lea Schneider befragt die Scham als ein Machtinstrument, das domestiziert und unterdrückt – aber auch als ein Potenzial, das Werkzeug oder Waffe sein kann. Sie erkundet die Kompliz_innen der Scham: Gender, Sexualität, vor allem aber die Konvention, sich anderen gegenüber niemals bedürftig zu zeigen. In Gedichten findet Lea Schneider etwas anderes: Die Möglichkeit, Scham umzuformulieren, in Offenheit, Interesse und Begegnung mit dem eigenen Begehren und dem der anderen. Scham zu bewohnen, sich radikal verletzbar zu machen, wird zu einem Modus der Kritik, des Vertrauens und Zutrauens. Ein Plädoyer, die SCHAM neu zu denken, SCHAM überhaupt zu denken.

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